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Führung, Fehler und Entscheidung unter Druck
Urs Meier, 60, Fußball-Schiedsrichter-Legende
Noch immer gilt er als einer der bekanntesten Fußball-Akteure der Schweiz. Als Urs Meier Ende 2004 offiziell seine internationale Schiedsrichterkarriere beendete, hatte er in 27 Jahren 883 Spiele geleitet. Seit 1994 war er FIFA-Referee und erwarb sich in zahlreichen Champions League- und UEFA-Cup-Einsätzen den Respekt von Spielern und Fans. Es folgten 1998 die Berufung für die WM in Frankreich mit dem politisch brisanten Spiel USA – Iran, zwei Europameisterschaften (2000 und 2004) und die Weltmeisterschaft 2002, bei der er das Halbfinale zwischen Deutschland und Südkorea leitete. Im selben Jahr pfiff er auch das Champions League-Finale Real Madrid – Bayer Leverkusen in Glasgow und wurde von einer Fachjury zum zweitbesten Schiedsrichter der Welt gewählt. Meier arbeitet heute als TV-Experte und Vortragsredner und lebt in Andalusien.
Wie trifft man als Schiedsrichter richtige Entscheidungen unter Druck – aber auch ganz allgemein?
Neben dem Fußballverständnis muss ein Schiedsrichter auch ein gerüttelt Maß an Menschenkenntnis und Lebenserfahrung mitbringen. Wenn diese Voraussetzungen stimmen, dann kann er auch im Spiel vorausschauen. Wenn man bereit ist für die Entscheidung, dann trifft man in der Regel auch eine gute Entscheidung. Da muss man ehrlich auch sich selbst gegenüber sein. Wenn der Bauch und der Kopf das Gleiche entscheiden, dann ist es die beste Entscheidung. Wenn man dann mit einer mehrlagigen Situation konfrontiert wird, bei der mehrere Sachen gleichzeitig passieren – beispielsweise: Ist die Aktion im Strafraum? Ist es eine gelbe oder eine rote Karte? – dann muss man bereit sein, auch mal auf sein Gefühl zu hören und die richtige Entscheidung aus dem Bauch heraus treffen.
Heißt das: Sobald man nachzudenken beginnt, verlangsamen sich die Systeme oder funktionieren gar schlechter?
Man kann nicht immer alles sehen, was auf dem Platz passiert. In dieser Situation muss ich meiner Routine und meinem Spielverständnis vertrauen. Ich muss bereit sein für die Entscheidung und sie auch antizipieren. Das versuche ich heute, den Schiedsrichtern zu vermitteln: „Verdammt nochmal, ihr müsst nicht immer alles sehen! Ihr müsst auch mal spüren, was hier passiert.“
Wenn ein Schachprofi aufs Brett schaut, weiß er sofort: Das ist die venezianische Eröffnung, ein Anfänger sieht einfach nur 32 Figuren. Du hast geschrieben: „Schiedsrichter müssen gucken, gucken, gucken und wahrnehmen, dass solche Bilder und Konstellationen stimmen...“
Und auch, wenn vieles in Bruchteilen von Sekunden abläuft, hast du trotzdem mehr Zeit für die Entscheidung. Ich habe immer das Bild von Roger Federer im Kopf. Er hatte das mal in einem Interview folgendermaßen beschrieben. Für ihn kommt der Ball in Zeitlupe. Wohingegen für mich der Ball wie eine Rakete kommt. Er sieht seinen Schläger, sieht den Ball genau in Zeitlupe kommen und weiß, was passieren wird und was passieren sollte. Ich wäre einfach nur froh, wenn ich den Schläger halbwegs da hätte, wohin der Ball geht. Aber Roger hat sogar noch Zeit, um alles genau zu sehen und sich zu entscheiden, wie er den Ball treffen muss. Das ist auch beim Schiedsrichter so. Dann werden Entscheidungen nicht schnell, sondern eigentlich langsam gefällt. Das hat alles mit Routine und Erfahrung zu tun.
Was möchtest du Schiedsrichtern mit auf ihren Weg geben?
Ich möchte mit ihnen daran arbeiten, dass sie Fortschritte machen und sich weiterentwickeln. Oft glauben sie selbst nicht daran, dass es diesen Fortschritt gibt. Sie denken, „wir sind ja jetzt schon oben und haben es ja schon geschafft.“ Dann sag ich: „Nein, ihr seid eben noch nicht ganz oben. Auch wenn ihr bei einer WM dabei seid, geht eine Entwicklung noch weiter. Oben zu sein, ist ja das eine. Aber oben bleibt man nur mit überragenden Leistungen. Das sehen oft viele Schiedsrichter nicht. Da muss man auch von den Verbänden und der Leitung her muss man die Schiedsrichter zu ihrem Glück mal zwingen oder bringen.
Wie sieht es mit der Konkurrenz unter Schiedsrichtern aus? Man sagt ja, die Schiedsrichter betreiben Spitzensport.
Schiedsrichter zu sein ist Spitzensport. Man muss physisch und psychisch auf der Höhe sein, sonst hat man keine Chance. Und natürlich ist es auch ein Konkurrenzkampf. Es ist eine Pyramide. Nach oben hin wird die Luft immer dünner. Es gibt in der Schweiz mindestens 70.000 Schiedsrichter. Letztlich stehen zehn von ihnen auf der FIFA-Liste, doch nur einer kann zur Weltmeisterschaft. Es gibt drei deutsche Schiedsrichter, die Champions League-Spiele pfeifen dürfen. Und wenn man dann in die Weltmeisterschaft geht, dann ist man einer von 35 – und nur einer kann das Finale pfeifen. Nach dem Achtelfinale bleiben nur noch ganz wenige Schiedsrichter da. Vielleicht ein Dutzend für die letzten Spiele. Das ist Konkurrenzkampf pur. Da muss man auch die Ellenbogen ausfahren – denn du willst ja das Endspiel haben.
„Oben bleibt man nur mit überragenden Leistungen.“
Das geht ja dann eher indirekt vonstatten. Wie bekommt man als Schiedsricher ein Spiel?
Gewisse Sachen kann man ja nicht beeinflussen. Schlussendlich ist es auch eine politische Sache. Wenn die FIFA bei einer WM unbedingt einen Afrikaner einsetzen will, dann hat man keine Chance. Aber man kann es mit seiner Art schon beeinflussen. Man ist vier, fünf Wochen zusammen, und ist es wichtig, ehrlich und offen untereinander zu sein. Ich habe auch schon erlebt, wie jemand mit Unwahrheiten oder Halbwahrheiten arbeitet, um sich in Position zu bringen. Dann bekommt er vielleicht das Spiel, aber das hat ja nichts mit Langfristigkeit zu tun. Ich versuche immer meine Werte zu vertreten. Mit meiner Art bin ich damals auch schon oft angeeckt. Ich war zu ehrgeizig, hatte zu klare Ziele, war zu offen und zu ehrlich. Ich sagte auch, „ja, ich möchte das Finale pfeifen und ich denke, dass ich das auch kann.“ Zu meiner aktiven Zeit war es dann aber eher schon so: „Es wäre ja schon schön, wenn ich das Finale kriegen würde, und natürlich würden auch alle anderen das verdienen und ich würde mich auch freuen, wenn es der Kollege kriegt ..." Nein! Scheiße, ich möchte das! Mit dieser direkten Art bin ich oft angeeckt. Aber ich habe mich nicht verbiegen lassen.
Du hast geschrieben, dass du die Spieler auf dem Platz führst. Was bedeutet für dich eine gute Führung?
Gute Führung heißt, ehrlich zu sein, ein Fachmann zu sein. Ich bin der Fachmann in Regelsachen – ich bin der Chef. Ihr könnt gut spielen. Ihr seid Spieler, ihr macht euren Part. Also, dass immer klar ist, wer welchen Teil übernimmt. Und dass die Spieler mich deshalb akzeptieren, als Fachmann, der auch im menschlichen Bereich und auf Augenhöhe agiert. Dann kann man ein Spiel leiten. Wir haben ganz viele Schiedsrichter, die pfeifen zwar, aber die leiten nicht. Sie sprechen in entscheidenden Momenten nicht mit den Spielern. Sie kommunizieren nicht richtig. Die Spieler wollen eigentlich nur eins wissen: Ob der Schiedsrichter das sieht. Ein guter Schiedsrichter kommuniziert deutlich mit seiner Pfeife, aber auch mit seiner Persönlichkeit.
Dein Job ist es, Entscheidungen zu treffen. Man trifft aber auch mal Fehlentscheidungen, oder man macht Fehler. Wie gehst du damit um?
Erstens ist es falsch, wenn man Fehler verteufelt. Es sind ja die Fehler, die uns weiterbringen. Fehler möchte man zwar nicht machen. Aber die größten Fehler bringen uns am weitesten. Eigentlich muss man sie annehmen, man muss daraus lernen. Und dann auch wieder abgeben. Es ist oft so, dass Menschen, die gewisse Fehler gemacht haben, diese nicht loslassen können. Dass sie diese mitnehmen, was sie dann belastet. Aber genau das darf eben nicht passieren. Fehler muss man auch loslassen können. Gerade auch als Schiedsrichter. Alles, was passiert ist, was ich nicht mehr verändern kann, muss ich loslassen. Es gibt ja diesen schönen Spruch: Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist. Wenn ich in ein schwieriges Spiel hineingehe, wo der Druck groß ist, muss ich zu mir selbst ehrlich sein und mich fragen: „Bin ich in Topform? Habe ich mich gut vorbereitet? Bin ich psychisch bereit für dieses Spiel?“ Und dann kommt die 90. Spielminute, es steht immer noch 0:0. Elfmeter für Bayern oder nicht? Man pfeift dann diesen Elfmeter, weil man ehrlich überzeugt ist, dass es einer gewesen ist – und nach dem Spiel wird man mit den Reportern konfrontiert, die einem anhand von Fernsehbildern zeigen, dass dein Elfmeter eine Fehlentscheidung war. Dann muss man sich auch hinstellen und sagen: „Ja, liebe Leute, verdammt nochmal: Aus meiner Perspektive war es ein klares Foulspiel. Wenn ich die Szene jedoch aus dieser Perspektive sehe, war es kein Foulspiel – Sorry! Es war eine Fehlentscheidung von mir. Es tut mir leid. Ich kann mich nur entschuldigen und versuchen, es das nächste Mal besser zu machen." Pfeift man diesen Elfmeter aber, weil man dem Druck von außen nachgegeben hat, dann hat man ein Problem. Man kann es erstens nicht argumentieren, und zweitens glauben einem die Leute das auch nicht. So etwas wird sich einbrennen und man wird die ganze Karriere lang diese Fehlentscheidung als große Belastung mit sich schleppen.
„Ich kann mich nur entschuldigen und versuchen, es das nächste Mal besser zu machen.“
Hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Welche Rolle spielen Selbstzweifel in diesem Kontext?
Jedes Mal, wenn man in eine neue Liga kommt, hat man natürlich neue Herausforderungen. Da hat man schon mal gewisse Selbstzweifel. So nach dem Motto, „schaffe ich das hier auch?" Da hat man schon mal diesen Gedanken, „Moment, jetzt komme ich in die Champions League und was läuft hier?“ Und man merkt, da ist noch mehr Druck und es geht noch schneller. Aber man merkt auch gleichzeitig, dass einfacher gespielt wird, denn die können besser Fußball spielen. Und weil sie besser Fußball spielen können, habe ich weniger schwierige Situationen. Also, es geht alles schneller, aber auch alles klarer. Eigentlich ist es einfacher, ein Spiel in der höchsten Liga zu leiten, vom technischen her. Ein Spiel in der untersten Liga, wo sie nicht so gut Fußball spielen können: Das kann man fast nicht richtig pfeifen.
Wo dann womöglich auch unglaublich großes Aggressionspotenzial vorhanden ist. Das kann schon eine Grenzerfahrung werden, oder?
Schon, aber das sind Grenzerfahrungen, die einen auch weiterbringen. Diese Spiele haben mich eigentlich zu dem Schiedsrichter gemacht, zu dem ich schlussendlich wurde. Also, ich brauchte diese Spiele in den untersten Ligen und auch die Derbys. Oder türkische Mannschaften gegen Mannschaften aus dem ehemaligen Jugoslawien. Das waren Spiele! Ganz allein! 600-700 Zuschauer. Da ging die Post ab, auf dem Platz, neben dem Platz. Da musste man durch. Und das macht dich verdammt stark, wenn man diese Spiele leitet. Wenn man hinterher Türkei gegen Serbien pfeift, dann hat man weniger Probleme.
Was bedeutet eigentlich Erfolg für dich?
Erfolg ist für mich, wenn ich meine Ziele, meine Träume, das was ich mir vorgenommen habe, erreicht habe. Für mich war der größte Erfolg im Nachhinein, dass ich die letzten sieben Jahre meiner Karriere immer mindestens beim Halbfinale in der Champions League dabei war. Ich war konstant auf dem höchsten Niveau, das es im Weltfußball gibt. Das hat in dieser Form kein anderer geschafft.
Eine persönliche Frage: Wie können wir unsere Leistung steigern, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen?
Jetzt komme ich wieder mit der Ehrlichkeit, der Ehrlichkeit mit sich selbst, dass man sich selbst richtig einschätzen kann. Und dass man auch seinen Körper und seine Psyche richtig einschätzen kann. Dass man sich nicht überfordert. Und dass man sich selbst auch Auszeiten gönnt. Bei mir war das immer so, denn eine ganze Saison ist unglaublich anstrengend. Ich habe mir immer wieder Auszeiten genommen, in denen ich meine Batterien aufgeladen habe; mit Urlaub, mit meiner Familie, mit meinen Freunden. Das ist ungeheuer wichtig.
Es schwirren etliche Motivationstrainer auf dem Markt herum. Was hältst du von Slogans wie, „wenn du willst, dann kannst du alles erreichen?“
Das klingt ja schön. Das glaubt derjenige, der das vertritt, doch nur, wenn er es auch geschafft hat. Dann ist das wunderbar. Dann finde ich das auch in Ordnung. Doch oft setzen wir uns unsere Grenzen tatsächlich selbst, indem wir sie vielleicht zu tief ansetzen. Natürlich gibt es jedoch überall eine Grenze. Bei mir auch: Ich wollte zuerst Profi-Fußballer werden, musste dann aber einsehen, dass daraus nichts wird. Denn da waren zu viele schwache Punkte, die ich nicht verbessern konnte. Irgendwann kannst du die Technik zwar üben, aber aus einem Ackergaul wird nun mal kein Rennpferd. Und das musst du dann irgendwann einmal akzeptieren: „Du bist ein Ackergaul!“ Und dann musst du auch nicht mehr als Rennpferd herumlaufen. Man kann aber nicht nur irgendein Ackergaul sein, sondern man kann der beste Ackergaul werden.
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Der Speaker, Coach und Bestsellerautor Dr. Michele Ufer ist international gefragter Experte für Sport- und Managementpsychologie und erfolgreicher Ultramarathon-Läufer.