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Grenzen erkennen, um sie zu erweitern
Sportpsychologe Dr. Michele Ufer plädiert dafür, Limits genau zu erkunden und zu respektieren. Er redete mit Sportlern und Höchstleistern über Grenzkompetenz
Herdecke. Sie klettern scheinbar schwerelos an überhängenden Felsvorsprüngen. Sie rennen auf den Gipfel des Kilimandscharo, zweimal am selben Tag. Sie absolvieren an 20 Tagen in Folge den strapaziösen Ironman-Wettkampf. Oder sie laufen 250 Kilometer durch die Wüste – so wie Michele Ufer . Der Extremsportler und Laufpsychologe hat sich für sein Buch „Limit Skills“ Menschen vorgenommen, für die es keine Grenzen zu geben scheint – und festgestellt, dass diese Höchstleister, aus dem Sport und anderen Bereichen, ganz genau ihre Grenzen kennen. Georg Howahl sprach mit ihm darüber, wie man Kompetenz im Umgang mit seinen Grenzen erwirbt, um sie zu verschieben.
Als Sportpsychologe sind Sie zuständig für die Motivation Ihrer Klienten, halten aber wenig von gängigen Motivationssprüchen. Warum?
Michele Ufer: Weil viele dieser Sprüche schlichtweg nicht stimmen. Zum Beispiel: „Wenn du willst, kannst du alles erreichen!“ Das hört man landauf, landab. Stimmt das aber wirklich? Hat jeder Fußballer auf dem Bolzplatz das Potenzial, in der Nationalmannschaft zu spielen? Nein! Auch wenn der Wille da ist, hat nicht jeder die biologischen Voraussetzungen. Wenn ich den Spruch in einen beruflichen Kontext stecke, wird’s deutlich: Ich kann noch so motiviert sein und die Dinge verändern wollen, wenn aber die Bedingungen nicht entsprechend sind, um Dinge zu ermöglichen, dann wird das nicht funktionieren.
Sie halten manche Motivationssprüche sogar für gefährlich...
Man denke nur an „No Limit! Reiße deine Grenzen ein!“ Grenzen einfach einzureißen, da ist die Frage, ob das so funktional ist. Grenzen haben ja eine bestimmte Funktion, sie sind wichtig und nötig. Grenzen geben uns Schutz und Halt. Unsere Haut ist eine Grenze, die ganz bestimmte Funktionen für uns erfüllt. Soll man das alles einreißen? Das wäre ja grob fahrlässig. Oder den Läuferspruch: „Did not finish is no option!“ Manchmal ist das Abbrechen eines Laufes sehr wohl eine Option, und sogar eine intelligente. Es schützt davor, dass wir vielleicht bleibende Schäden davontragen.
Ein zentraler Begriff Ihres Buchs lautet Grenzkompetenz. Was sollen wir darunter verstehen?
Es geht mir um die Beantwortung der Frage: Wie können wir unsere Leistung steigern und persönliche Grenzen erweitern oder überwinden? Der entscheidende Punkt: Wie geht das, ohne uns dabei selbst kaputt zu machen? Ich finde, es ist keine großartige Leistung, innerhalb von ein paar Jahren Karriere zu machen und richtig was rauszuhauen, wenn man danach mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus liegt.
Wie können wir es anstellen, dass wir uns selber gut weiterentwickeln?
Man hört von vielen Motivationstrainern den Spruch: „Raus aus der Komfortzone!“ Damit haben sie auch recht. Denn nur jenseits der alltäglichen Routine und außerhalb der Bereiche, in denen wir uns sicher fühlen, entsteht ein Raum für Lernen, für Neues, für Entwicklung. Aber das ist nur eine Seite der Medaille, denn man sollte auch nicht zu weit aus der Komfortzone driften, weil man sich dann selbst überfordern, blockieren und in eine Schockstarre verfallen kann.
Also: Raus aus der Komfortzone – aber bitte nicht zu weit?
Wenn ein Kleinkind das Gehen lernt, fällt es zunächst immer wieder auf die Schnute. Aber hoffentlich nicht so schlimm, dass es Angst bekommt. Irgendwann ist das Gehen dann Teil der Komfortzone. Oder nehmen wir mich: Einen Halbmarathon zu laufen, war für mich früher schwer vorstellbar. Heutzutage ist das für mich ein Trainingslauf. Es ist ja auch der Sinn von Lernprozessen, dass sich Grenzen verschieben.
Aber man kann ja nicht nur Höchstleistungen bringen...
Was die Leute meist vergessen, ist etwas Zentrales: Wenn man sich außerhalb der Komfortzone in der Lernzone getummelt hat, sollte man auch immer wieder zurück in die Komfortzone. Wir brauchen Erholungsphasen. Ein Extrem-Bergsteiger hat es im Interview mit mir ungefähr so formuliert: „Wir können nicht unser Leben lang auf 8000 Metern in der Todeszone herumlaufen, wir müssen zwischendurch immer wieder absteigen.“ Wir können also nicht nur Vollgas geben.
Nicht nur Sportler wissen: Man muss mit Rückschlägen fertig werden.
Wir sind leider in unserem Land so geprägt, dass Fehler verteufelt werden. Dabei liegen in Rückschlägen immense Lernchancen. Das ist im angloamerikanischen Kulturraum anders. Wenn man bei uns ein Start-up gründet und vor die Wand fährt, ist man stigmatisiert als Verlierer. In den USA kann man danach einfach das nächste Ding probieren.
Kann man lernen, nach einem Rückschlag schnell wieder aufzustehen?
Diese psychische Widerstandskraft hängt zusammen mit einem Set von psychologischen Strategien, die man lernen kann. Zum Beispiel: Wie ich mit mir selber rede, welche Gedanken ich pflege.
Sie haben auch mit Leistungsträger wie die Komikerin Hazel Brugger oder die Managerin Chantal Bialek gesprochen. Gelten abseits des Sports dieselben Regeln?
Es macht einen Unterschied, ob wir ein Auto bauen, ein Krankenhaus führen oder Ultramarathons laufen. Aber es geht darum, herausfordernde Ziele effektiv zu erreichen, indem wir es schaffen, Fähigkeiten und Potenziale zuverlässig abzurufen. Wir wollen eine stimmige Antworte auf folgende Frage: Wie können wir uns so steuern, dass wir Ziele eine Spur schneller, entspannter erreichen und bei alldem unsere Gesundheit und Lebensfreude im Blick behalten? Da sind die Herausforderungen und psychologischen Mechanismen in Sport und anderen Bereichen gar nicht so verschieden.
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